Ein fensterloser Raum unter der Erde. Kein Tageslicht, keine Heizung. Die Wände und der Boden aus nacktem Beton, die Luft muffig von Feuchtigkeit und Schimmel. In den Gängen der bedrohliche Geruch nach Gas und das Sirren abenteuerlich verlegter Stromkabel.
In eine solche Untergrundpension, wie es sie im Peking der 80er Jahre noch häufig gab, verschlägt es den Erzähler in Qiuzi Qings Roman »Pekinger Kellerratten«. Doch anders als die Wanderarbeiter, Obdachlosen und Prostituierten, mit denen er sein ärmliches Quartier teilt, ist er ein Intellektueller und erfolgreicher Geschäftsmann. Sein bisheriges Leben hat er aus Idealismus aufgegeben. Von den Versprechungen falscher Freunde in die Stadt gelockt, steht er plötzlich vor dem Nichts und weiß keinen anderen Ausweg, als sich in der schäbigen Unterkunft unter der Erde einzumieten.
Was er dort erlebt, und wie er dafür kämpft, wieder ein menschenwürdiges Leben führen zu können, erzählt der Roman in mit großem Einfühlungsvermögen. Er beschreibt, wie die Menschen, denen er begegnet, trotz ihrer Armut und ihrer Not ihre Menschlichkeit bewahren und ihre Träume, Hoffnungen und Ängste, ja sogar ihren Humor bewahren.
Der Roman erscheint als Taschenbuch im GLANZ-Verlag voraussichtlich im Januar 2024 und kann ab sofort vorbestellt werden.
Leseprobe:
Im Norden scheint die Sonne im Winter ohnehin schon sehr wenig. Unter der Erde jedoch bekam ich kaum mal einen Sonnenstrahl zu Gesicht. Mit der Zeit wurden meine Beine schwach und die Knie weich. Mein Gang wurde unsicher, es fühlte sich an, wie auf dicker Baumwolle zu laufen und ich stand nicht mehr sicher. Obwohl ich mir damals schon dachte, dass es an dem Leben unter der Erde liegen musste, erfuhr ich den genauen Grund dafür erst später: es war ein Kalziumdefizit, das durch den Mangel an Sonnenlicht ausgelöst wurde. Aber selbst, wenn ich es gewusst hätte, hätte ich es kaum über mich gebracht, Geld für Kalziumtabletten auszugeben. Eine Flasche eines Multivitaminpräparats kostete immerhin dreißig Yuan! So viel wie fünf Mahlzeiten. Obwohl ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, war ich wild entschlossen, diese Schwierigkeit aus eigener Kraft zu überwinden. Jedes Mal, wenn ich ins Freie trat, knickten meine Füße um, und in meiner Vorstellung rief eine Stimme: „Umgeknickt! Umgeknickt!“
Um die Zeit herumzubringen, und auch um nicht ganz vom Tagesgeschehen abgeschnitten zu sein, hatte ich hin- und hergerechnet und war zu dem Entschluss gekommen, dass ich mir die fünf Yuan täglich für die Tageszeitung „Pekinger Abendblatt“ gerade so leisten konnte. So lief ich jeden Abend um fünf Uhr, wenn es schon dämmerte, los, um die Zeitung zu kaufen. Einmal kam ich dabei an eine Kreuzung und wollte einem Fahrrad ausweichen. Ich geriet ins Straucheln, stolperte noch einige Schritte vorwärts, bis mich meine Füße nicht mehr hielten und ich am Straßenrand hinfiel. Ich hörte, wie die Leute um mich herum zu schreien anfingen. Ich lag auf dem eiskalten Boden, umringt von Menschen, die aus meiner Perspektive riesengroß aussahen. In dem Gedränge wurde mir schließlich aufgeholfen. Ein kleines Mädchen mit rotem Halstuch, das ganz blass im Gesicht war, fragte mich: „Geht es dir gut, Großvater?“ Ich starrte sie entgeistert an. In den vergangenen paar Jahren war es hin und wieder vorgekommen, dass man mich als Lehrer angesprochen hatte. Aber „Großvater“ wurde ich heute zum ersten Mal genannt. Das Mädchen hatte ein rundes Gesicht und große Augen, ihr Halstuch leuchtete rot. Die ganze Zeit hielt sie meinen Arm fest. Hunderttausende Gedanken drängten sich auf einmal in meinem Kopf, mir standen Tränen in den Augenwinkeln, und meine Lippen zitterten so sehr, dass ich nicht sprechen konnte. Das Mädchen wurde immer besorgter: „Großvater, hab keine Angst, ich bringe dich ins Krankenhaus!“ Unter Mühen richtete ich mich auf. Für mich selbst völlig unerwartet sagte ich: „Mädchen, es ist alles in Ordnung, dem Großvater geht es gut, es ist nur eine alte Krankheit. Geh nur schnell nach Hause!“ Ich versuchte, ein paar Schritte zu gehen, und konnte mich tatsächlich auf den Beinen halten. Als die Umstehenden sahen, dass ich unverletzt war, seufzten einige vor Erleichterung, und die Menge löste sich auf. Das Mädchen wirkte nicht so erleichtert, sie drehte sich alle paar Schritte nach mir um. Erst als ich ihr mit der Hand ein Zeichen gab, dass tatsächlich alles in Ordnung war, ging sie fort. Ich fühlte mich gedemütigt. Beim Abendessen würden die Leute reden: „Stell dir vor, an der Kreuzung der Songyuli-Straße ist heute ein alter Genosse gestürzt!“ Was für eine erniedrigende Vorstellung!
(Bildquelle: http://www.ccjt.tv/talk/view/263)